Erkenntnisse im Wanderretreat

Wie ich bei Retreats und Workshops lerne. Ich bereite gerade die nächste sunday morning practice vor und es beschleicht mich leises Unbehagen:
„Was haben meine Teilnehmenden davon, wenn sie sich 4 oder manchmal 6/7 Stunden einem Thema und der Achtsamkeit widmen?“
 
So gerne möchte ich, dass sich aufgewendete Zeit und Geld sofort als Verbesserungen in ihrem Leben zeigen. Doch bei diesem Wunsch gruselt es in mir, da ich weiß, dass nachhaltige Entwicklung nicht von heute auf morgen passiert. Achtsamkeit hat eine „Sofort-Wirkung“ – meist ein Ankommen in mir selbst, Schärfung der Sinne, Freude und Ruhe – doch es braucht das „Dranbleiben“ und viele kleine Schritte, damit sich grundlegende Muster ändern können. Doch Achtsamkeit als Lehrerin, ermöglichte es mir diese vielen kleinen bewussten Schritte – zur tatsächlichen Veränderung – in meinem Alltag zu gehen. Mit Achtsamkeit passiert Lernen durch Erfahren. Mein „Achtsamkeitsmuskel“ wird in Workshops und Retreats trainiert und ich kann dadurch in meinem Alltag klarer sehen und verändern. Entwicklung in der Tiefe passiert – ohne dass mein Verstand es oft benennen kann. Damit es nicht theoretisch bleibt, beschreibe ich dir hier, was ich beim letzten Wanderretreat erkannt und gelernt habe und wie es langsam in meinen Alltag fließt und sich auch dort zeigt.

alte Überzeugungen erkennen

Das Wanderretreat in Obernberg am Brenner war unbeschreiblich schön und die Zeit mit Thay Phap An, Sister Song Nghiem und anderen Mönchen und Nonnen des EIAB kaum in Worte zu fassen. Paradoxerweise erlebten wir Leichtigkeit, Freude und unbeschwertes Glück in den so massiven, stabilen und festen Bergen. Nix von Härte, die uns TirolerInnen oft nachgesagt und die ich schon häufig erlebt habe – auch wenn sich alte „Wanderweisheiten“ zeigten. Vietnamesische Mönche und Nonnen haben ein völlig anderes Verständnis von Wanderungen, als unsereins. Z.B. geht der/die TirolerIn in der Früh in die Berg‘, gejausnet wird erst, wenn der anstrengendste Teil der Wanderung geschafft ist und es braucht gscheite Schuh‘. Ich hatte die Aufgabe voraus zu gehen und bemerkte, wie ich bei der ersten Wanderung ein ziemliches Tempo vorgab und in meinem Inneren, Worte aus meiner Kindheit hörte: nicht stehenbleiben, im Rhythmus bleiben, stetig weitergehen und auch leichten Druck spürte. Erleichtert hörte ich Thay Phap An nach der ersten Pause sagen: „Wir können auch stehen bleiben und die Landschaft genießen. Das ist eine Art der Meditation.“ Die Bürde der Tirolerin wurde mir dadurch abgenommen ;-).
 
 
Es war so wunderbar, diese alten Überzeugungen zu erkennen, mit ihnen zu atmen und die Freiheit zu spüren, als klar wurde: Es muss nicht so sein. Es kann ganz anders sein. So oft halten wir an alten Überzeugungen fest und engen uns ein, vermiesen uns die schönsten Tage oder erklären andere für unwissend, nur weil sie Dinge anders machen. Vielleicht gibt es auch etwas in deinem Leben, das du schon von klein auf machst. Oft sind es Dinge, die unsere Eltern mit Begeisterung verfolgten und „Wissen und Überzeugungen“ rund herum aufgebaut haben. Z.B. beim Kuchen backen oder was an einem Samstag oder Sonntag zu tun ist oder wie man sich bei Besuchen verhält oder wie man eben „Berg geht“ 😉 Lass die Sicherheit, die diese Überzeugungen dir geben mal für einen Moment los und spüre die Freiheit, wenn du es mal ganz anders machen kannst. Thay Phap An wies uns nicht auf unsere alten Überzeugungen hin, sondern wir hatten Zeit und auch das nötige Maß an Achtsamkeit, um zu erkennen. Ich spürte den Druck, die Enge, das Fremdbestimmte in diesen alten Überzeugungen und fühlte auch die Leichtigkeit, Freude und das Vertrauen als ich sie bemerkte, liebevoll hinterfragen konnte und sie von mir abfielen. Bei der nächsten Wanderung kommen sie bestimmt wieder, aber ich werde sie schneller erkennen und ohne sie weitergehen.

Unsicherheit

Um Sicherheit bzw. Unsicherheit geht es auch in der zweiten Erfahrung im Wanderretreat, die ich mit dir teilen möchte. Erinnerst du dich daran, als du das letzte Mal in einer neuen Gruppe warst? Wie ging es dir dabei? Kannst du dich an das leicht unsichere Gefühl erinnern, das wir oft verspüren, wenn wir uns auf neue Leute und Situationen einlassen? Für einige der Teilnehmenden war die Erfahrung eines Retreats, der Umgang mit buddhistischen Nonnen und Mönchen und der Ablauf recht neu. Ich spürte ihre Unsicherheit und ihr Bedürfnis nach Informationen und Halt durch Worte. Wenn ich normalerweise Workshops gebe, komme ich diesem Bedürfnis sofort nach und gebe Orientierung. In diesem Rahmen und auch durch die noble silence – edles Schweigen (v.a. abends und morgens) konnte ich dem, nicht wie gewohnt, nachkommen… wie wunderbar! Denn so hatten wir die Möglichkeit wieder einmal dieses Gefühl zu erfahren. Den Zauber des Anfangs. Die Möglichkeit zu spüren, wie es ist, wenn man etwas Neues wagt. Unser Verstand sucht nach Halt, Kontrolle, sicher sein… aber das Leben ist ein Fließen, Ungewissheit und völlig neu in jedem Moment. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne!“ Doch wir wollen diesen Zauber nicht… wir wollen den Anfang nicht – wir wollen gleich angekommen sein. Wir wollen den Zauber der Ungewissheit nicht, sondern wollen alles gleich wissen, sicher sein und unter Kontrolle haben. Begegne heute etwas Neuem, bei dem du dir nicht ganz sicher bist. Spüre dieses sanfte Kribbeln, Ziehen in der Magengrube und wisse, es ist nichts falsch an dir… es ist völlig normal zu Beginn unsicher zu sein. Jaaaa, wage das Neue und lerne diesen Zauber des Anfangs ganz neu kennen.                                                                                                          Foto: Manfred Stromberg
 
Auch hier passierte Lernen auf einer sehr tiefen Ebene: Durch das „edle Schweigen“ in den Morgen- und Abendstunden konnte ich nicht aus meiner Gewohnheit heraus handeln und ich durfte mit der Gruppe leichte Unsicherheit spüren und mit ihr sein. Konnte erkennen, dass Unsicherheit völlig normal ist und ich nichts tun muss, um sie zu beseitigen. Ich lernte in meine Teilnehmenden zu vertrauen, sah wie sie ankamen, sich in den Fluss des Retreats sinken ließen und daraus Freude und Leichtigkeit entstand. Diese Leichtigkeit und „nicht alles unter Kontrolle“ haben zu müssen ist auch heute noch spürbar. Etwas in mir hat auf einer tiefen Ebene verstanden – dafür bin ich sehr dankbar. Wann immer sich dir die Möglichkeit eines Retreats oder eine andere Möglichkeit zum Praktizieren ergibt, nutze sie und lass dich auf diese neue Art des Lernens ein. Und wenn gerade kein Retreat, kein Praxiswochenende,… ansteht – dann lerne in deinem Alltag genau auf diese Art und Weise:
Wage es inne zu halten, ruhig zu werden tief in dein Leben zu schauen und zu verstehen.
 
So geschieht Veränderung nachhaltig – ohne Druck
in der Einheit von Körper, Gefühlen und Geist. Genau in der Situation, in der du gerade bist.
Mit Liebe! P.S. Vielen herzlichen Dank an unseren wunderbaren Fotografen Manfred Stromberg, der so einfühlsam die Tage des Wanderretreats in Bildern festhielt. Hier die Links zu den beiden letzten sunday morning practices in diesem Jahr: https://susannamuehlbacher.com/produkt/sunday-morning-practice-bedingungslose-freude/ https://susannamuehlbacher.com/produkt/sunday-morning-practice-stille/

2 Gedanken zu “Erkenntnisse im Wanderretreat

  1. Titus

    Hi Susanna! Wie immer wunderbare Worte mit unglaublicher Klarheit! Und Gratulation an Manfred für die stimmungsvollen Fotos !

    1. Susanna

      Hi lieber Titus, so schön, dir hier zu begegnen. Danke dir! Jaaaa, so wunderbare Fotos! Am Mittwoch schauen wir sie uns gemeinsam an. Hoffe, du bist dabei.
      Alles Liebe! Susanna

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